Warum fällt es so schwer, uns freizusprechen?

Ausschnitte aus dem 'Letzten Wort' einer Angeklagten der Letzten Genration

Geposted von " LetzteGeneration " am Sunday, December 31, 2023

Inhalt

Warum fällt es so schwer, uns freizusprechen?

Ich will Sie nicht nerven. Ich will mit Ihnen über die Klimakrise reden und über Regierungsversagen, über die Bedrohung unserer Demokratie und über mein Recht auf Versammlungsfreiheit. Ich habe den Eindruck, dass Sie und einige Ihrer Kolleg:innen das nervt. Warum eigentlich? Ich glaube, weil es auch Sie mit Ihren Ängsten konfrontiert. Ich weiß, wie schmerzhaft die Auseinandersetzung damit ist. Denn mit der Angst kommt die Frage nach der eigenen Handlungfähigkeit, ja, sogar die Frage nach der eigenen Verantwortung. Wir drängen Sie also irgendwie auch, sich zur Klimakrise und Ihrer Verantwortung, dagegen etwas zu unternehmen, zu positionieren.

Ich bin fest davon überzeugt, dass es anhand der heute aufgeführten Beweismittel möglich ist, mich des Vorwurfs der Nötigung freizusprechen. Es könnte sein, dass es ebenso möglich ist, den Vorwurf aufrecht zu erhalten und mich zu verurteilen.

Ich möchte zu meiner Eingangsfrage zurückkehren: Warum fällt es so schwer, uns freizusprechen? Warum fällt es bisher Ihnen und Ihren Kolleg:innen leichter, uns trotz aller Widerstände zu kriminellen Straftäter:innen zu verurteilen, wenn wahrscheinlich fast alle hier im Raum Anwesenden sich einig sind, dass wir die gängigen Kriterien dazu nicht erfüllen?

Ich glaube, es liegt daran, dass wir unsympathisch sind. Natürlich nicht ich als Person, aber die Form des Protestes ist unsympathisch. Warum eigentlich?

Da sind die Einen, die wir im Alltag unterbrechen, die gern zitierte „hart arbeitende Bevölkerung“. Die kann doch nun wirklich nichts dafür. Wirklich? In diesem Satz wird der ganzen hart arbeitenden Bevölkerung die Verantwortung abgesprochen, dafür zuständig zu sein, in welcher Gesellschaft wir leben. Das ist eigentlich ungeheuerlich.

Demokratie bedeutet durchaus mehr, als alle 4 Jahre wählen zu gehen und dazwischen hart zu arbeiten. Das schienen, zumindest bis vor kurzem, viele von uns vergessen zu haben.

Dann sind da die anderen, die vielen, die eigentlich wissen, welche Bedrohung von der Klimakrise ausgeht. Zumindest prinzipiell. Die, die sagen, es passiert doch schon so viel. Die, die einerseits wissen und andererseits verdrängen. Den Ernst der Lage verdrängen, den Zeitdruck, den eigenen Handlungsrahmen. Die sich im persönlichen vielleicht abrackern, weniger Fleisch zu essen und nicht mehr so oft zu fliegen und doch ahnen, dass diese Bemühungen nicht ausreichen. Die viel Kraft aufbringen, um die Verdrängung aufrecht zu erhalten.

( … )

Ich gehe also davon aus, dass auch Sie persönlich sich in irgendeiner Weise von unseren Protesten angesprochen fühlen. Die Emotionalität, die in diesen Verfahren zu spüren ist, lässt es mich bei allen Ihrer Kolleg:innen vermuten. Als Richterpersonen ist es ihre Aufgabe, diese persönlichen Betroffenheiten wahrzunehmen, um sie aus der Urteilsfindung heraushalten zu können, und darauf vertraue ich.

( … )

Die Bedrohung der heutigen Zeit ist die Klimakrise

Mein Großvater war ein Nazi. Mein Vater ist Geschichtslehrer. Ich bin in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass es an den Bürgerinnen und Bürgern ist, Demokratien zu schaffen, aufzubauen und zu schützen, wenn sie gefährdet werden. Dabei ging es zu Hause am Küchentisch eigentlich nie um die Klimakrise. Es ging darum, die Demokratie vor extremen Minderheiten zu schützen, die nur ihre eigenen Interessen vertreten und dabei dazu bereit sind, die Menschenwürde zu missachten. Und natürlich ging es immer darum, eine Wiederholung der Geschichte zu verhindern.

Die Bedrohung der heutigen Zeit ist die Klimakrise. Die Bedrohung und die konkreten Folgen zu erfassen, überfordert uns als Menschheit regelmäßig. Extremwetter wie Dürre, Hitze, Kälte, Unwetter werden Milliarden Menschen aus ihren Lebensräumen vertreiben. Die ökologische Nische, in der der Mensch fähig ist, mit vielen Menschen gleichzeitig zu leben, verkleinert sich in einem nie da gewesenen Ausmaß. Und in einem nie dagewesenen Tempo. Die Fluchtbewegungen, die Nahrungsmittelkämpfe, die Ressourcenkriege werden ein für uns heute unvorstellbares Ausmaß erreichen.

Doch wenn wir eines an bisher eingetretenen Folgen durch die Klimakrise - wie z.B. am Ahrtal - lernen sollten, dann wohl dieses: das Unvorstellbare wird Realität.

( … )

Was glauben wir eigentlich, kann unsere Demokratie aushalten?

Die Szenarien aus dem ipcc-Bericht sind mit dem Fortbestand unserer Demokratie kaum vereinbar: für über 3 Mrd Menschen wird aller Voraussicht nach ihre jetzige Heimat unbewohnbar werden. Was heißt das denn? Selbst wenn ein Großteil der Menschen umkommt, bevor sie sich auf den Weg machen können, haben wir Fluchtbewegungen in ungekanntem Ausmaß zu erwarten. Bei gleichzeitiger Verknappung der Ressourcen für die eigene Bevölkerung. Und nur zur Erinnerung: wir reden über eine Zeitspanne von 30-100 Jahren.

Schon heute erleben wir unter dem Druck der gleichzeitigen Krisen einen Rechtsruck, der durch ganz Europa geht. Faschistische Positionen werden nicht nur salonfähig, sie werden längst in Regierungen gewählt. Wie weit die ideologischen Fantasien bereits schon wieder fortgeschritten sind, haben uns die Ergebnisse der Correctiv-Recherchen gerade erst in erschütterndem Ausmaß vor Augen geführt.

Das Fortschreiten der Klimakrise bedroht unsere demokratische Grundordnung unmittelbar. Und unsere Regierung hält sich nicht an die selbst gesteckten Ziele, die die Erderhitzung abmildern sollen. Die Regierung nimmt ein Urteil des Verfassungsgerichts achselzuckend hin und weicht bereits in der darauffolgenden Legislaturperiode die eigenen Kilmagesetze auf.

Wessen Aufgabe ist es, die Demokratie zu schützen?

In meinem Verständnis einer funktionierenden Demokratie sollte das Parlament dies selbst tun. Aber auch die Gerichte und wichtige gesellschaftliche Institutionen, wie z.B. Universitäten. Die Presse natürlich, Künstlerinnen und Künstler, andere Personen des öffentlichen Lebens. Egal, wo ich hinsehe, aktuell kann ich in keinem der eben genannten Handlungsfelder ein kollektiv angemessenes Verhalten in Bezug auf die Klimakrise entdecken. Schlimmer noch: wer auf die Misstände hinweisen will, wird eingeschüchtert: wie noch im Herbst 2023 Polizeibeamt:innen, die einen offenen Brief an Olaf Scholz überreichen wollten und denen mit Disziplinarverfahren gedroht wurde.

( … )

Ich habe mit einer Naturwissenschaftlerin gesprochen, die u.a. zur CO2-Speicherung in Mooren forscht und die sagte zu mir: „Ich habe inzwischen keine Angst mehr vor den Naturkatastrophen, ich habe Angst vor dem, was gesellschaftlich passiert. Vor dem, was Menschen sich gegenseitig antun werden.“

Präzendenzurteile werden berücksichtigt, nicht hinterfragt

In einem privaten Gespräch sagte eine Staatsanwältin einmal zu mir: „vielleicht verlangt ihr zuviel von den Amtsgerichten. Ich will über so etwas gar nicht entscheiden.“ Sie hat Recht. Die juristischen Strukturen und Hierarchien, sofern ich sie verstanden habe, sehen nicht vor, Präzendenzurteile zu hinterfragen, sondern diese zu berücksichtigen. Zumindest auf Amtsgericht-Ebene. ( … ) Als Staatsanwältin müsste ich mich wohl fragen: Ist es angemessen, diese Proteste mit Strafbefehlen schnell erledigen zu wollen, wenn doch die Verhandlungen zeigen, dass die Urteile mitnichten einfach und einheitlich sind? ist es wirklich im öffentlichen Interesse, diese Proteste als Nötigung zu verfolgen? Ist es nicht eher im öffentlichen Interesse, Proteste zu schützen und die Versammlungsfreiheit zu gewährleisten?

( … ) Als Richterin müsste ich mich wohl fragen: Wie hoch müssen wir die Versammlungsfreiheit im Verhältnis zur Bedrohung unserer Demokratie hängen? Gehört es zu meiner Aufgabe, überkommene Urteile zu hinterfragen? Mit mutigen urteilen die Aktualität von Präzedenzfällen zu prüfen?

( … )

Kollektive Handlung oder kollektiver Suizid

Diese Zeit verlangt uns allen sehr viel ab. Wir sollten aber doch jetzt die Zeit nutzen, in der wir vielleicht noch handlungsfähig sind. Es gibt keine neutrale Position mehr. Wer schweigt, wer fortfährt, als wäre alles normal, macht sich mitschuldig. Es ist naiv, zu glauben, es werde nicht so schlimm. Es ist fatalistisch, zu glauben, wir könnten nichts mehr tun. Wir können. Antonio Gutuerres fasst es so zusammen: „Wir haben eine Wahl. Kollektive Handlung oder kollektiver Suizid.“ Das heißt: wir alle müssen uns entscheiden: wollen wir ein Sandkorn oder ein Rad im Getriebe sein?

Vielleicht haben Sie selbst Kinder, Neffen oder Nichten. Ich frage mich regelmäßig: was soll ich meinen Kindern antworten, wenn Sie mich fragen: ihr habt das alles gewusst? Warum habt ihr nichts getan? Ich frage mich regelmäßig, ob es wohl ausreicht, was ich tue. Eine kleine, wenn auch wachsende Gruppe an Aktivist:innen wird diese Krise nicht lösen können. Wenn nicht alle bereit sind, aus ihrer Komfortzone herauszugeben und mutig zu handeln, wird mein Tun vergebens gewesen sein. Es braucht viele Sandkörner, um ein Getriebe zum Stillstand zu bringen. Ich bitte Sie: machen Sie sich auf den Weg, um uns nicht gemeinsam in den Suizid zu reißen.

Wieder möchte ich eine Parallele zu meinem Berufsalltag ziehen: wenn ich als Zuständige in einer Notsituation nicht weiter weiß, muss ich mir Hilfe holen. Und Arbeitsumfelder, in denen das nicht möglich ist, sind hochgefährlich.

Auf der Straße, auf Podien, in Vorträgen und auch in diesen Gerichtsverfahren rufen wir um Hilfe. Und das tun wir, so laut wir können, da das leise Bitten und das höfliche Anklopfen zu lange ignoriert wurden. Es geht in diesem Protest nicht um das Begehen von Straftaten. Es geht bei diesem friedlichen Protest um eine unüberhörbare Unterbrechung im Sinne eines Hilferufes. Es ist heute Ihre Entscheidung, ob dieser Hilferuf eine Straftat darstellt.

Merle, Letzte Generation